Hermann Hesse
Die frühe Stunde
Silbern überflogen
Ruhet das Feld und schweigt,
Ein Jäger hebt seinen Bogen,
Der Wald rauscht und eine Lerche steigt.
Der Wald rauscht und eine zweite
steigt auf, und fällt.
Ein Jäger hebt seine Beute
Und der Tag tritt in die Welt.
Hermann Hesse
[Aus: Hermann Lauscher]
Aller Friede senkt sich nieder
Aus des Himmels klaren Weiten
Alles Freuen, alles Leiden
Stirbt den süßen Trost der Lieder
Hermann Hesse
Jeden Abend
Jeden Abend sollst Du Deinen Tag
Prüfen, ob er Gott gefallen mag.
Ob er freudig war in Tat und Treue,
Ob er mutlos lag in Angst und Reue;
Sollst die Namen deiner Lieben nennen,
Haß und Unrecht still vor Dir bekennen,
Sollst dich alles Schlechten innig schämen,
Keinen Schatten mit ins Bette nehmen,
alle Sorgen von der Seele tun,
Daß sie fern und kindlich möge ruhn.
Dann getrost in dem geklärten Innern
Sollst du deines Liebsten dich erinnern,
Deiner Mutter, deiner Kinderzeit;
Sieh, dann bist du rein und bist bereit,
Aus dem kühlen Schlafborn tief zu trinken,
Wo die goldnen Träume tröstend winken,
Und den neuen Tag mit klaren Sinnen
Als ein Held und Sieger zu beginnen.
Hermann Hesse
Der Blütenzweig (1913)
Immer hin und wider
Strebt der Blütenzweig im Winde,
Immer auf und nieder
Strebt mein Herz gleich einem Kinde
Zwischen hellen, dunklen Tagen,
Zwischen Wollen und Entsagen.
Bis die Blüten sind verweht
Und der Zweig in Früchten steht,
Bis das Herz, der Kindheit satt,
seine Ruhe hat
Und bekennt: voll Lust und nicht vergebens
War das unruhevolle Spiel des Lebens.
Hermann Hesse
Der Duft der Rose (1901)
nimmt Dich in einen süßen Bann,
rührt dich liebkosend leise
wie eine Liederweise
mit Ahnung voller Schönheit an,
ist ohne Gleichnis rein und zart:
du kannst es nicht ermessen,
fühlst nur ein süß Vergessen
und eine süße Gegenwart.
Hermann Hesse
Leben einer Blume, (1934)
Aus grünem Blattkreis kinderhaft beklommen
Blick sie um sich und wagt es kaum zu schauen,
Fühlt sich von Wogen Lichtes aufgenommen,
Spürt Tag und Sommer unbegreiflich blauen.
Es wirbt um sie das Licht, der Wind, der Falter,
Im ersten Lächeln öffnet sie dem Leben
Ihr banges Herz und lernt, sich hinzugeben
Der Träumefolge kurzer Lebensalter.
Jetzt lacht sie voll, und ihre Farben brennen,
An den Gefäßen schwillt der goldne Staub,
Sie lernt den Brand des schwülen Mittags kennen
Und neigt am Abend sich erschöpft ins Laub.
Es gleicht ihr Rand dem reifen Frauenmunde,
Um dessen Linien Altersahnung zittert;
Heiß blüht ihr Lachen auf, an dessen Grunde
Schon Sättigung und bittre Neige wittert.
Nun schrumpfen auch, nun fasern sich und hangen
Die Blättchen müde überm Samenschoße.
Die Farben bleichen geisterhaft: das große
Geheimnis hält die Sterbende umfangen.